Die meisten industrialisierten Volkswirtschaften verfügen über offene und wettbewerbsbestimmte Märkte mit soliden rechtsstaatlichen Grundlagen, an denen privatwirtschaftliche Unternehmen die dominierenden Wirtschaftsakteure sind. In einigen Ländern aber, darunter vielen aufstrebenden Volkswirtschaften, entfällt ein wesentlicher Teil des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Beschäftigung und der Marktkapitalisierung auf staatseigene Unternehmen. Selbst in Ländern, in denen staatseigene Unternehmen lediglich eine untergeordnete Rolle in der Wirtschaft einnehmen, sind sie oft vorwiegend in Versorgungs- und Infrastruktursektoren anzutreffen, wie z. B. in der Energiewirtschaft, im Verkehrswesen, im Telekommunikationssektor sowie vereinzelt auch im Mineralölsektor, anderen Rohstoffsektoren sowie im Technologie- und Finanzbereich. Deshalb ist die Leistungsfähigkeit staatseigener Unternehmen für weite Teile der Bevölkerung wie auch für andere Bereiche des Unternehmenssektors von entscheidender Bedeutung. Folglich ist eine gute Corporate Governance staatseigener Unternehmen wichtig, um sicherzustellen, dass sie einen positiven Beitrag zu öffentlichen Politikzielen, zu nachhaltiger Entwicklung einschließlich Klimawende sowie zur Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft leisten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass marktgesteuerte Entwicklung das erfolgreichste Modell für eine effiziente Ressourcenallokation ist. In einer Reihe von Ländern werden die Organisation und Ausübung der Eigentumsrechte an staatseigenen Unternehmen gegenwärtig reformiert, wobei in vielen Fällen internationale Best Practices wie die vorliegenden Leitsätze als Ausgangspunkt oder sogar als Maßstab dienen. Ziel der Leitsätze ist es, 1. den Staat als Eigentümer zu professionalisieren, 2. sicherzustellen, dass staatseigene Unternehmen bei ihrer Geschäftstätigkeit ein ähnliches Niveau an Effizienz, Transparenz, Integrität und Rechenschaftspflicht aufweisen wie nach empfehlenswerter Praxis handelnde privatwirtschaftliche Unternehmen, 3. zu gewährleisten, dass der Wettbewerb zwischen staatseigenen und privatwirtschaftlichen Unternehmen fairen Bedingungen unterliegt, und 4. zur Nachhaltigkeit, Resilienz und langfristigen Wertschöpfung staatseigener Unternehmen beizutragen.
Die Leitsätze befassen sich nicht mit der Frage, ob sich bestimmte Aktivitäten am besten in öffentlicher oder privater Hand befinden sollten. Dies hängt von verschiedenen Faktoren ab, die durch die Volkswirtschaft und die Politikentscheidungen der einzelnen Länder beeinflusst werden. Wenn aber eine Regierung beschließt, staatseigene Unternehmen zu veräußern, ist gute Corporate Governance mit einem hohen Maß an Transparenz und Integrität eine wichtige Voraussetzung für eine wirtschaftlich erfolgreiche Privatisierung, da sie die Bewertung der staatseigenen Unternehmen verbessert und dem Staatshaushalt somit höhere Privatisierungserlöse zufließen.
Die Beweggründe für staatliche Unternehmensbeteiligungen sind je nach Land und Wirtschaftszweig unterschiedlich. In der Regel handelt es sich um ein Zusammenspiel sozialer, wirtschaftlicher und strategischer Interessen. Dazu zählen beispielsweise öffentliche Politikziele, regionale und nachhaltige Entwicklung, die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen sowie sogenannte „natürliche“ Monopole, d. h. Bereiche, in denen Wettbewerb als nicht praktikabel gilt. Allerdings haben die Globalisierung der Märkte, der technologische Wandel und die Deregulierung zuvor monopolistischer Märkte in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern zu Anpassungen und Umstrukturierungen im staatseigenen Unternehmenssektor geführt. Darüber hinaus sind staatseigene Unternehmen mittlerweile in wesentlich größerem Umfang am Welthandel und an der internationalen Investitionstätigkeit beteiligt. Früher beschränkten sich staatseigene Unternehmen in erster Linie auf die Bereitstellung grundlegender Infrastruktur oder anderer öffentlicher Dienstleistungen an ihren Heimatmärkten, mittlerweile aber hat ihre relative Bedeutung zugenommen. Sie entwickeln sich immer mehr zu wichtigen Akteuren am Weltmarkt, die auch in strategischen Wirtschaftssektoren tätig sind und eine entscheidende Rolle für die Klimawende spielen. Parallel dazu hat auch die Verbreitung von Staatsfonds und staatseigenen Holdinggesellschaften zugenommen, wodurch sich die Komplexität der Beziehungen zwischen Staaten und den Unternehmen, an denen sie beteiligt sind, erhöht. Diese Entwicklungen wurden in einer Reihe von OECD-Berichten untersucht, deren Erkenntnisse in diese Leitsätze eingeflossen sind.
Staatseigene Unternehmen stehen aus Sicht der Corporate Governance vor einer Reihe spezieller Herausforderungen. Einerseits können staatseigene Unternehmen unter übermäßiger und politisch motivierter Einmischung leiden, die zu unklaren Zuständigkeiten, mangelnder Rechenschaftspflicht und Integrität sowie Effizienzverlusten in ihrer Geschäftstätigkeit führt. Andererseits kann das Fehlen jeglicher Aufsicht aufgrund einer zu passiven oder distanzierten Eigentumsausübung durch den Staat die Anreize für staatseigene Unternehmen und ihre Beschäftigten schwächen, im besten Interesse des Unternehmens und der Allgemeinheit – die der eigentliche Anteilseigner des Unternehmens ist – zu handeln, und die Wahrscheinlichkeit eines von Eigeninteressen geleiteten Verhaltens von Unternehmensangehörigen erhöhen. Zudem ist die Geschäftsführung staatseigener Unternehmen u. U. vor zwei Faktoren geschützt, die beim Management privatwirtschaftlicher Unternehmen eine entscheidende disziplinierende Wirkung ausüben, nämlich die Gefahr einer Übernahme und die Gefahr einer Insolvenz. Auf der Ebene des Staates kann die Durchsetzung handelsrechtlicher Gesetze und Bestimmungen gegenüber staatseigenen Unternehmen eine besondere Herausforderung darstellen, da Rechtsdurchsetzungsmaßnahmen von Regulierungsbehörden gegen staatlich kontrollierte Unternehmen zu Spannungen zwischen verschiedenen staatlichen Stellen führen können. Zusätzliche Governanceprobleme entstehen dann, wenn staatseigene Unternehmen öffentliche Politikziele erfüllen und gleichzeitig andere Aktivitäten ausüben, oder wenn sie durch ihre Konzentration in bestimmten Sektoren stärker durch bestimmte Risiken und Chancen beeinflusst werden, die sich auf die in den einschlägigen OECD-Standards beschriebene Wahrung verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns und hoher Integritätsstandards auswirken können.
Grundlegender betrachtet ergeben sich Corporate-Governance-Probleme aufgrund der Tatsache, dass die Rechenschaftspflicht für die Leistungen staatseigener Unternehmen auf eine komplexe Kette von Agenten (Geschäftsführung, Board, Eigentumsträger, Ministerien, Regierung und Legislative) verteilt ist, bei der der Prinzipal entweder nur schwer bzw. nicht eindeutig zu identifizieren oder weit entfernt ist; die intrinsischen Interessenkonflikte einzelner Beteiligter könnten dazu führen, dass Entscheidungen nicht im besten Interesse des Unternehmens und der Allgemeinheit, die der eigentliche Anteilseigner des Unternehmens ist, sondern auf der Grundlage anderer Motive getroffen werden. Um in diesem komplexen Geflecht von Verantwortlichkeiten für effiziente Entscheidungen und gute Corporate Governance zu sorgen, müssen dieselben drei Grundprinzipien beachtet werden, die auch für ein attraktives Anlageumfeld und Wettbewerbsneutralität entscheidend sind: Transparenz, Evaluierung und Politikkohärenz.
Die OECD-Leitsätze zu Corporate Governance in staatseigenen Unternehmen (die Leitsätze) wurden erstmals 2005 veröffentlicht und 2015 überarbeitet, um diesen Herausforderungen zu begegnen. 2022 ersuchte der OECD-Ausschuss für Corporate Governance die Arbeitsgruppe Staatsbeteiligungen und Privatisierungen, dieses Instrument zu überprüfen und zu überarbeiten, um den Veränderungen des Corporate-Governance-Umfelds und den fast zwanzigjährigen Erfahrungen mit der Umsetzung der Leitsätze Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass sie zweckmäßig sind und andere OECD-Standards sinnvoll ergänzen. Andere Berichte haben sich bereits mit Veränderungen der Corporate-Governance-Strukturen und staatlichen Beteiligungsmodelle in OECD- und Partnerländern seit 2005 befasst. Reformen haben u. a. zu einer professionalisierteren und aktiveren Eigentümerkultur geführt. Damit einhergehend wurden staatseigene Unternehmen denselben Standards bei der Transparenz und Rechenschaftspflicht unterworfen wie börsennotierte Unternehmen, und die Boards wurden mit hinreichender Autonomie und Unabhängigkeit ausgestattet, um sicherzustellen, dass sie einen Mehrwert schaffen. Trotz der Verbreitung guter Praktiken werden die Leitsätze in den einzelnen Staaten nach wie vor in sehr unterschiedlichem Maße umgesetzt. Auf dieser Grundlage zog die Arbeitsgruppe die Schlussfolgerung, dass die Leitsätze weiterhin hohe Erwartungen an die Regierungen stellen und als führender internationaler Standard dienen sollten, um Politikverantwortliche bei der Reform staatseigener Unternehmen zu unterstützen.
Die Leitsätze sollen Politikverantwortlichen einen tragfähigen, ambitionierten und flexiblen Bezugsrahmen bieten, um Regelwerke für Beteiligungen an und die Governance von staatseigenen Unternehmen sowie für die Rolle staatseigener Unternehmen am Markt zu entwickeln. Die Leitsätze sind nicht rechtsverbindlich und nicht als detaillierte Vorgabe für nationale Gesetzgebungen gedacht. Sie sind weder ein Ersatz für nationale Gesetze und Vorschriften, noch sollten sie als diesen übergeordnet angesehen werden. Die Leitsätze sollen Best Practices benennen und verschiedene Wege aufzeigen, wie die gewünschten Ergebnisse mit einem Instrumentarium, zu dem in der Regel Elemente der Politikgestaltung, Gesetze, Vorschriften, Regeln, Selbstregulierungsmechanismen und freiwillige Verpflichtungen gehören, erzielt werden können. Die Umsetzung der Leitsätze in den einzelnen Staaten hängt von den jeweiligen politischen, gesetzlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen sowie der Größe, den Begleitumständen und der kommerziellen Ausrichtung der staatseigenen Unternehmen und anderen damit verbundenen Faktoren ab, die für die Umsetzung der Leitsätze relevant sein könnten.
Bei der Ausübung ihrer Pflichten als Eigentümer kann es sich für Staaten auch als zweckmäßig erweisen, die im Folgenden genannten Empfehlungen zu befolgen, insbesondere die überarbeiteten G20/OECD-Grundsätze der Corporate Governance (die Grundsätze) [OECD/LEGAL/0413] und die Leitsätze für Korruptionsbekämpfung und Integrität in staatseigenen Unternehmen (die ACI-Leitsätze) [Guidelines on Anti-Corruption and Integrity in State-Owned Enterprises (the ACI Guidelines) OECD/LEGAL/0451]. Die Leitsätze sollen die Grundsätze und die ACI-Leitsätze ergänzen und sind mit ihnen in vollem Umfang vereinbar. Weitere maßgebliche OECD-Rechtsinstrumente umfassen beispielsweise die OECD-Erklärung über internationale Investitionen und multinationale Unternehmen (OECD Declaration on International Investment and Multinational Enterprises [OECD/LEGAL/0144]), die als festen Bestandteil die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen zu verantwortungsvollem unternehmerischem Handeln enthält, sowie die OECD-Empfehlung für Wettbewerbsneutralität (OECD Recommendation on Competitive Neutrality [OECD/LEGAL/0462]). Als zusätzliche Orientierungshilfen können auch andere Quellen, wie z. B. der OECD-Politikrahmen für Investitionen (Policy Framework for Investment) sowie das OECD Competition Assessment Toolkit, herangezogen werden. Die Leitsätze enthalten Ratschläge dazu, wie Regierungen sicherstellen können, dass die Rechenschaftspflicht staatseigener Unternehmen gegenüber der Öffentlichkeit mindestens der Rechenschaftspflicht eines börsennotierten Unternehmens gegenüber seinen Aktionären gleichkommt.
Der Haupttext gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil werden die Leitsätze vorgestellt. Sie sind in die folgenden Kapitel unterteilt: I) Beweggründe für staatliche Unternehmensbeteiligungen, II) Die Rolle des Staates als Eigentümer, III) Staatseigene Unternehmen am Markt, IV) Gleichbehandlung der Anteilseigner und sonstigen Anleger, V) Offenlegung, Transparenz und Rechenschaftspflicht, VI) Zusammensetzung und Pflichten des Boards (Aufsichtsorgan) staatseigener Unternehmen, und VII) Staatseigene Unternehmen und Nachhaltigkeit. Jedes Kapitel beginnt mit einem einzelnen Leitsatz (in Kursiv- und Fettdruck), der durch eine Reihe von detaillierteren Leitsätzen und Unterleitsätzen (jeweils in Fettdruck) präzisiert wird. Der zweite Teil enthält ergänzende Anmerkungen. Sie kommentieren die Leitsätze und Unterleitsätze und erläutern die ihnen zugrunde liegenden Überlegungen. Die Anmerkungen können auch aktuell vorherrschende bzw. neue Trends beschreiben, verschiedene Durchführungsmethoden nennen oder Beispiele anführen, die für die praktische Umsetzung der Leitsätze von Nutzen sein können. Ergänzt werden die Leitsätze außerdem durch detailliertere Umsetzungsleitlinien in anderen OECD-Berichten und -Publikationen.