In einer Zeit, in der der Bedarf an Umschulungen und Höherqualifizierungen infolge struktureller Veränderungen wächst, steht die Weiterbildungspolitik aufgrund der in vielen Ländern beobachteten Zunahme atypischer Beschäftigungsformen und der stärkeren Fragmentierung beruflicher Laufbahnen vor neuen Herausforderungen. Politische Entscheidungsträger suchen nach neuen Lösungen für die Herausforderungen, die die Zukunft der Arbeit birgt. Im Bereich der Fort- und Weiterbildung sind individuelle Lernkonten daher wieder verstärkt in den Blickpunkt gerückt. Insbesondere wird das französische Compte Personnel de Formation häufig als interessanter neuer Ansatz genannt, der die Weiterbildungsbeteiligung in der neuen Arbeitswelt steigern könnte.
Ziel dieses Berichts ist es, politisch Verantwortlichen Hinweise zu geben, wie ein solches Programm gestaltet werden kann. Dabei stützt er sich auf Erkenntnisse, die mithilfe einer Reihe von Fallstudien und der Sichtung der einschlägigen Fachliteratur aus bestehenden und vergangenen Programmen gewonnen wurden. Bisher wurde nur ein einziges echtes individuelles Weiterbildungskonto umgesetzt, das in Frankreich bestehende Compte Personnel de Formation. Für den Bericht wurde daher ein breiterer Ansatz gewählt, indem individuelle Lern- und Weiterbildungsprogramme in die Betrachtung einbezogen wurden. Es handelt sich insbesondere um
i. Individuelle Weiterbildungskonten. Dies sind virtuelle, individuelle Konten, auf denen im Lauf der Zeit Weiterbildungsansprüche angesammelt werden. Sie sind insofern virtuell, als Ressourcen nur dann abgerufen werden, wenn berufliche Weiterbildungsmaßnahmen tatsächlich in Anspruch genommen werden. Das einzige echte Beispiel für ein individuelles Lern- und Weiterbildungskonto ist das französische Compte Personnel de Formation.
ii. Individuelle Sparkonten. Dies sind reale, physische Konten, auf denen Personen im Lauf der Zeit Ressourcen zum Zweck der Fort- und Weiterbildung sammeln. Nicht genutzte Ressourcen bleiben Eigentum des Einzelnen und können je nach Programm für andere Zwecke (z.B. Altersvorsorge) verwendet werden. Diese Programme sind äußerst selten.
iii. Bildungsgutscheine. Sie bieten Personen Direktzuschüsse, die für berufliche Weiterbildungsmaßnahmen verwendet werden müssen, häufig verbunden mit einer Eigenbeteiligung des Einzelnen; sie lassen keine Ansammlung von Ansprüchen oder Ressourcen im Zeitverlauf zu. Dies ist die am häufigsten umgesetzte Form individueller Lern- und Weiterbildungsprogramme.
Individuelle Lern- und Weiterbildungsprogramme sind attraktiv. Sie wurden ursprünglich mit dem Ziel eingeführt, die Wahlmöglichkeiten und Verantwortung des Einzelnen in Bezug auf weiterführendes Lernen zu stärken und den Wettbewerb zwischen den Weiterbildungsanbietern und damit die Qualität und Relevanz des Weiterbildungsangebots zu erhöhen. In einer Arbeitswelt, in der die Fragmentierung beruflicher Laufbahnen immer mehr zunimmt, stößt in jüngster Zeit die Möglichkeit, Weiterbildungsansprüche von einem Arbeitsplatz oder Erwerbsstatus auf einen anderen „zu übertragen“ – d.h. Weiterbildungsansprüche nicht an ein bestimmtes Beschäftigungsverhältnis oder einen bestimmten Arbeitgeber, sondern an Personen zu binden –, bei den Politikverantwortlichen erneut auf Interesse.
Allerdings sind individuelle Weiterbildungskonten kein Allheilmittel für die mit der neuen Arbeitswelt einhergehenden Herausforderungen. Wie jede andere Weiterbildungsmaßnahme auch werden sie zu einer Büchse der Pandora, sobald man sich mit den Einzelheiten befasst. Dies bedeutet nicht, dass sie bei der Bewältigung gewisser Herausforderungen nicht hilfreich sein können. Dafür müssen die Stärken und Schwächen solcher Programme aber klar verstanden werden und außerdem sind bei der Gestaltung wichtige Aspekte zu berücksichtigen. Politisch Verantwortliche, die individuelle Weiterbildungskonten einrichten möchten, müssen eine Reihe wichtiger Fragen und Zielkonflikte berücksichtigen. Auch wenn ein individuelles Weiterbildungskonto an sich nicht alle Probleme lösen kann, kann ein gut durchdachtes Programm Ländern helfen, bessere Weiterbildungsergebnisse zu erzielen. Im Folgenden sind einige der zentralen Erkenntnisse aufgeführt, die sich aus der Analyse der Gestaltung individueller Weiterbildungskonten (und auch individueller Lern- und Weiterbildungsprogramme im weiteren Sinne) ergeben haben.
Die Ausrichtung individueller Lernprogramme auf bestimmte Zielgruppen trägt dazu bei, Mitnahmeeffekte und das zu Lasten Geringqualifizierter gehende Weiterbildungsbias zu reduzieren. In Bezug auf die Teilnahme von Geringqualifizierten haben individuelle Lern- und Weiterbildungsprogramme nur dürftige Ergebnisse hervorgebracht. Die gezielte Ausrichtung kann helfen, diese Herausforderung zu bewältigen, sie kann aber auch den Verwaltungsaufwand erhöhen (und damit der Beteiligung schaden). Die Beschränkung von Programmen auf bestimmte Gruppen hat u.a. den Nachteil, dass sie die Übertragbarkeit von Ansprüchen einschränkt. Eine andere Möglichkeit der gezielten Ausrichtung, mit der dieses Problem gelöst wird, besteht darin, allen Zugang zu gewähren, die Fördersätze jedoch nach Gruppen zu differenzieren.
Es sollten beträchtliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden, wenn das Programm entscheidenden Einfluss auf Weiterbildungsergebnisse haben soll. Die meisten bestehenden Programme stellen relativ kleine Förderbeträge zur Verfügung. In der Praxis bedeutet das, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nur kurze Weiterbildungsprogramme absolvieren können, die wahrscheinlich nicht zu einer erheblichen Höher- oder Neuqualifizierung führen. Darüber hinaus bestehen bei vielen Programmen Eigenbeteiligungsauflagen, die auf geringqualifizierte und einkommensschwache Personen abschreckend wirken können. Verdienstausfälle während der Weiterbildung gehören zu den größten Kosten, die durch die Teilnahme an entsprechenden Maßnahmen entstehen. Daher ist es sinnvoll, die Förderung durch individuelle Lernprogramme mit anderen Formen unterstützender Bildungsmaßnahmen, z.B. bezahlte Fort- und Weiterbildung/ Bildungsurlaub, zu kombinieren. Die Kombination mit betrieblichen Schulungsmaßnahmen kann auch eine gute Möglichkeit sein, eine Kultur des Lernens zu fördern.
Individuelle Lernprogramme sollten einfach gehalten werden, um einen möglichst breiten Teilnehmerkreis zu erreichen. Programme, deren Nutzung kompliziert ist, schaden der Beteiligung, insbesondere der geringqualifizierter und unterrepräsentierter Gruppen. Benutzerfreundliche Websites können Interessenten zwar helfen, Informationen zu finden und Entscheidungen zu treffen, doch für geringqualifiziertere Arbeitskräfte ist nach wie vor persönliche Unterstützung wichtig. Komplexe und fragmentierte Governance-Strukturen, bei denen die Zuständigkeiten auf zu viele Akteure verteilt sind, können auch die Wirksamkeit individueller Lernprogramme beeinträchtigen, da es den Beteiligten – insbesondere geringqualifizierteren Arbeitskräften – schwerfällt, das System zu nutzen.
Individuelle Lernprogramme müssen durch andere Maßnahmen ergänzt werden, um die Teilnahme unterrepräsentierter Gruppen zu fördern. Die Hindernisse, denen sich unterrepräsentierte Gruppen bei der Fort- und Weiterbildung gegenübersehen, gehen häufig über fehlende Finanzmittel hinaus. Die Programme müssen einfach in der Anwendung sein. Außerdem brauchen Interessenten (insbesondere Geringqualifizierte) effektive persönliche Information, Beratung und Orientierung, damit sie ihre Weiterbildungsansprüche in nutzbringende Weiterbildungsergebnisse umwandeln können. Doch in der Praxis mangelt es daran in den meisten Fällen.
Bei individuellen Lernprogrammen ist es noch wichtiger, dass Weiterbildungsqualität garantiert wird. Im Verhältnis zu den Anbietern besteht für Einzelpersonen eine starke Informationsasymmetrie in Bezug auf die Qualität der Weiterbildung. Außerdem sind sie kaum bzw. gar nicht in der Lage, Preise (oder andere Aspekte der Weiterbildung) mit dem Anbieter zu verhandeln. Die Schaffung individueller Lernprogramme hat häufig dazu geführt, dass Qualitätssicherungsmaßnahmen beschleunigt umgesetzt wurden. Das wichtigste Instrument, das dazu eingesetzt wird, ist die Zertifizierung von Weiterbildungsanbietern. Einschränkungen in Bezug darauf, welche Art der Weiterbildung über individuelle Lernkonten erfolgen kann, können auch dazu beitragen, ihre Wirksamkeit im Hinblick auf die Arbeitsmarktergebnisse des Einzelnen zu verbessern.
Die Art und Weise, wie individuelle Lernprogramme finanziert werden, hat großen Einfluss auf die Umverteilung und die Vorhersehbarkeit der Finanzierung. Je höher die individuellen Spar- oder Eigenbeteiligungsanforderungen sind, desto geringer wird der Umverteilungseffekt der individuellen Lernprogramme sein. Im Hinblick auf öffentliche Finanzierungsquellen haben steuerfinanzierte Programme eine höhere Umverteilungswirkung (in dem Maße, wie das Steuersystem umverteilend wirkt). Allerdings können Programme dadurch sehr empfindlich auf Haushaltszwänge reagieren. Die Zuverlässigkeit der Finanzierung nimmt daher im Lauf der Zeit ab. Die Finanzierung durch eine Weiterbildungsabgabe hat den Vorteil, dass die Mittel zweckgebunden sind, und ermöglicht gleichzeitig eine gewisse Vergemeinschaftung.